Ob 2016 ein gutes Jahr für Musik war, kann ich kaum beantworten. Dafür habe ich zu wenig vom Abseitigen und den Randbereichen mitbekommen. Was die Charts anging, war es mehr als desaströs, wenngleich auch ein paar ganz gute Hits dieses Jahr dabei waren. Meine Top 20 sind etwas Mainstream-lastig, beinhalten aber auch genügend Geheimtipps, um nicht gar zu einseitig zu sein. Auf die Idee, mich mehr mit temporärer Musik auseinanderzusetzen, ähnlich wie eben beim Film, kam ich erst während des Jahres, weshalb diese Top 20 alles andere als einen Absolutheitsanspruch hat. Anders als bei Filmen, gehe ich auch nicht nach dem Veröffentlichungsdatum, sondern viel mehr nach dem Gedächtnis. „Geiles Leben“ und „Love Yourself“ zählen so für mich zum Beispiel ganz klar zum Jahr 2016 – hatten sie doch auch in diesem Jahr die meiste Chart-Präsenz.
Platz 20: Stay (Mac Miller, The Divine Feminine)
Dieser Mac Miller macht also ein Album über Sex und heraus kommt ein ganz unscheinbares Juwel. Der Jazz-Einfluss im Beat und seine außergewöhnlich lässige Art zu flowen, machen „Stay“ hierbei zum wahrscheinlich besten Rap-Lovesong des Jahres.
Platz 19: Cooler Than This (Rizzle Kicks)
Rizzle Kicks gehören mit zu den absolut coolsten Säuen im Business momentan. Die unglaubliche Musikalität des Duos, dass immer eine dicke Portion Humor wahrt, ist in der aktuellen Hip-Hop-Szene fast schon einzigartig. Auch in diesem Song stellen sie wieder ihr Gespür für Pointen unter Beweis, in dem sie gekonnt gegen modernen Hip-Hop sticheln. Nein, man kann wirklich kaum cooler than this werden.
Platz 18: A-YO (Lady Gaga, Joanne)
Ich bin kein Riesen-Gaga-Fan, habe sie aber als Künstlerin absolut zu schätzen gelernt. Aus ihrem neuen Album hat es mir vor allem dieser Song angetan, der mit seinem Southernvibe auch Nichtraucher-Herzen strahlen lässt. Ihre Stimme und die Komposition ergeben eine so fantastische Einheit, dass sich die Tanzbeine von ganz alleine schwingen.
Platz 17: Jedermann (Pizzera & Jaus)
Normalerweise finde ich Musik im Schluchtenjodlerdialekt ja nicht so geil. Pizzera & Jaus, ein Duo, das eigentlich seine Wurzeln im Comedy-Bereich hat, ist mit „Jedermann“ eine gefühlvoller Trennungssong geglückt, der zwar in Selbstmitleid badet, aber in seiner stürmischen Kraft auch absolut authentisch ist. Letztlich wirkt der Song absolut perfekt wie die Nachwehen einer missglückten Beziehung und ist damit für jeden in greifbarer Nähe.
Platz 16: Mean What I Mean feat. Dreezy, Leikeli47 (AlunaGeorge)
Wäre die erste Strophe nicht gewesen, wäre dieser Song wohl weit höher in dieser Liste gelandet. Zu sehr klingt AlunaGeorge austauschbar. Da hilft auch die Agitation des Songs, ein Konter auf Justin Biebers sehr fragwürdiges „What do you mean?“ zu sein nicht. Dreezy und Leikeli47, zwei Rapperinnen, die man absolut auf dem Schirm haben sollte, rasieren jedoch mit ihren Parts komplett. Dreezy stellt hier all ihr Potential unter Beweis und liefert einen der besten Parts des Jahres ab, währen Leikeli47 etwas Battle-Aroma dazu gibt. Eine feministische Hymne ist das vielleicht noch nicht, aber fast.
Platz 15: Is This Love That I’m Feeling (Robin Längert)
Ich hasse DJ-Mucke, wirklich. Ironischerweise war es aber genau mein Kumpel Robin, der mit einem seiner ersten Tacks in der Lage war, mich zu überzeugen, dass diese Musik mehr kann, als mit BpM zu spielen. „Das war wirklich so unvorbereitet alles. Einfach aus Intention nach und nach die Elemente hinzugefügt. So klingt es aber immer am besten, finde ich. Ungekünstelt. Das ist mir am wichtigsten!“, beschrieb er mir den Track. Und das hört man. Sein Marley-Remix hat etwas gelassenes, aber damit auch etwas sehr weises im Bezug auf die Emotion, die Robins Komposition durchgehend übermittelt. Weiter so, Bro!
Platz 14: Geiles Leben (Glasperlenspiel, Tag X)
Lief im Radio, als ich erfahren habe, dass ich auf der Schauspielschule genommen wurde. Vielleicht mochte ich den Song in erster Linie deshalb. Aber auch abgesehen davon: Die Trennung von einer Person, weil sich die Lebenswege zu sehr unterscheiden, hat einen bitteren Schmerz voller Wehmut und Ärgernis, der unterschwellig hervortrit. Glasperlenspiel gelingt es einzufangen, wie es ist, von einer anderen Person abzulassen, weil man einfach nicht mehr kann. Das ist einfach und doch so brillant.
Platz 13: One Dance feat. Kyla, Wizkid (Drake, Views)
Ursprünglich höher platziert, nutze sich dieser Song auf den Zielgeraden doch immens ab für mich. Dennoch verleiht er dem eigentlich Trivialen etwas unerhört-existenzielles. Im overused und oft sehr dämlich verwendeten Dancehallsound mag das kein Unikat sein, Drake gelingt es jedoch absolut am besten. Der Beat ist von einer süchtigmachenden Essenz geschaffen, die Körper duchzieht.
Platz 12: The Greatest (Sia, This Is Acting)
Ein würdiger Song für die Opfer von Orlando. Hier sei erwähnt, dass ich explizit die Version OHNE Kendrick Lamar meine, da ich es für bescheuert und pietätlos halte, dass er einen läppischen Representer in das Lied miteinflechtet und dort auch noch Religion mit ins Spiel bringt. Keine Ahnung, was sich Sia dabei dachte, ihn mit ins Boot zu holen. Wie dem auch sei: Ihr Song ist von der melancholischen Stärke durchzogen, dem Stolz und der Würde der LGBTQ+Community, der ihnen den speziellen Anmut verleiht, den sie haben. Sia beweist, dass sie eine der ganz großen Künstlerinnen ist, die sowohl treffsicher als auch sensibel ist.
Platz 11: Too Good feat. Rihanna (Drake, Views)
Irgendwie klingt Drake in diesem Song reichlich butthurt. Das desaströse „Work“ ließ mich eigentlich die Lust an einer weiteren Kooperation mit Rihanna verlieren, „Too Good“ ist aber too good, um ignoriert zu werden. Ebenfalls geht es um eine Beziehung, die daran zerbricht, dass eine Verbindung zwischen beiden nicht mehr in ausreichender Form besteht und das obwohl genug Passion und Verehrung vorhanden ist. Letztlich überwiegt der Schmerz, was auch daran zu merken ist, dass es melodisch oft sehr unrund wird. Zudem ist „Too Good“ eine Erinnerung daran, WAS Rihanna eigentlich kann.
Platz 10: Figures (Jessie Reyez)
Die vermutlich unbekannteste, von Robin jetzt mal abgesehen, Platzierung in dieser Liste. Dennoch ist der kraftvolle Minimalismus, des Betrogenwordenseins die Quintessenz eines Liedes, das auf die schönste Art und Weise kleine Wunder entstehen lässt. Jessie Reyez ist stimmlich eine Sensation. Sie explodiert immer wieder aufs Neue und baut dabei zarte Seiten auf gewaltigen Fundament. Letztlich liegt ihr Dilemma darin, sich zu wünschen, ihm dasselbe antun zu können. Ein Wunsch, in dem aber auch Verzeihung liegt, und die Wut darüber, diese Gefühle noch immer zu haben. Faszinierend erschütternd.
Platz 9: Journeyman (Jamestown Revival, The Education of a Wandering Man)
Ich bin mir noch nicht sicher, ob mir das neue, blueslastigere Jamestown Revival gefällt. „Journeyman“ greift jedoch zumindest theamtisch soviel Western und Country auf, dass es mich mit Freuden an die Tage denken lässt, in denen ich ihr Album „Utah“ kennen und lieben gelernt habe. Dass „Journeyman“ mich aber auch anderweitig begeistert, liegt vor allem daran, dass das Duo ihr Gespür für die großen Sehnsüchte, nicht verloren hat. Die Thematik des ewig Suchenden und dauerhaft Wandernden ist keine neue und im Genre seit je her beheimatet. Trotzdem – und vielleicht auch genau wegen des Blueseinflusses – ist ihr Versuch an diesem Bild ein ganz besonders gelungener, der alte Wünsche wieder weckt.
Platz 8: Love Yourself (Justin Bieber, Purpose)
Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn – oder in diesem Fall einen Ed Sheeran. Der dürfte der einzige Grund sein, dass mir dieses Lied besser gefällt, als ich es eigentlich wollte. Wie Drake klingt auch er reichlich geschlagen und weitaus weniger über die Beziehung hinweg, als er es vorgibt zu sein. Dennoch entsteht gerade aus dieser Mischung der sanfte Sound, der das Lied so gut funktionieren lässt. Vielleicht ist es auch Ed Sheerans Talent, der genau dieses richtige Maß an adoleszenter Doppelmoral und Nichteinsteckenkönnens in dieser Komposition zusammenführt. Justin Bieber reiten ja bekanntlich viele Pferde doch es waren zumindest zum Teil die richtigen. „Love Yourself“ ist in all dieser jugendlichen Verzweiflung nämlich vor allem eines: ehrlich. Und das ist in der aktuellen Popmusik ein seltenes Gut.
Platz 7: The Train feat. Carla Morrison (Macklemore & Ryan Lewis, This Unruly Mess I’ve Made)
Ein unbeschreiblich gutes Album, das nur unbeschreiblich gute Songs hervorgebracht hat. Der ruhigste und wehmütigste dieser Songs ist ganz klar dieser. Mehr als die Verses von Macklemore, sind es hier sogar die Hook von Carla Morrison und der Beat von Lewis. Morrisons Gesang auf Spanisch fügt dem Abschiednehmen und Ankommen eine besondere, ins Herz stechende Note hinzu, die sich nur schwerlich genau festlegen lässt. Lewis Beat ist noch mehr on point als sonst und lässt im richtigen Moment die Sounds los. Es ist eine kleine Hymne der Reisenden und Heimatlosen und sagt so vielleicht sehr viel über die Interpreten aus.
Platz 6: Everyone’s Dead (Rizzle Kicks)
Rizzle Kicks ist einfach awesome. Die Lines sind witzig, der Beat ist funky. Inhaltlich treffen die Lyrics sarkastisch-bissig den Geist der Zeit und kommentieren ihn gekonnt. Dabei handelt es sich um einen der wenigen Songs überhaupt, die mit jedem Hören besser werden und sich von einem anfänglichen „meh“ hin zu einer absoluten Hype-artigen Begeisterung gesteigert haben. So geht fresher Hip-Hop, abseits von dämlicher Klischeeausschlachtung.
Platz 5: Waving Goodbye (Sia, The Neon Demon OST)
Die Symbiose der Oberflächlichkeiten gerät zum Exisenziellen. Vielleicht lässt sich Sia so am besten Beschreiben. Diese elektronischen Konservenklänge verdichten sich witzigerweise nur bei ihr zu solch einem Sturm. Ihre Texte sind unkonkret und alles andere als direkt vielsagend. Das Zusammenfügen dieser Elemente – Sias Stimme wird dabei immer zu einem ganz bestimmten Teil der Form – entfesselt eine unheimliche Kraft, die ein Loch dort offenlegt, wo eigentlich etwas sein sollte. Dass dieser Song somit zu einem der ganz großen Kinomomente des Jahres beigetragen hat, ist letztlich wenig überraschend. Noch besser: Er machte mich endgültig zum Sia-Fan.
Platz 4: I Don’t Wanna Live Forever feat. Taylor Swift (ZAYN, Fifty Shades Darker OST)
Ein Pop-Jahr ohne Taylor Swift ist ein trauriges Pop-Jahr. So habe ich mich eigentlich auch auf ein tristes Jahr gefasst gemacht. Und dann kurz vor Weihnachten kommt dieser Song. Und trotz meiner Skepsis ZAYN und Fifty Shades of Dingens gegenüber, knallt das Ding so rein. Ich weiß nicht, was los ist. Vielleicht ist Taylor Swift einfach irgendeine irdische Göttin, die alles was sie berührt in Gold verwandelt. Sogar ZAYN, dieses One-Direction-Bubi, verhält sich hier wie ein richtiger Erwachsener und macht Musik, die von reifen und mündigen Menschen Ernst genommen werden kann. Saperlott.
Taylor Swift ist die tollste Sängern überhaupt – kein Zweifel. Alleine die Liedzeile „Wondering if I dodged a bullet or just lost the love of my life” ist so hart und dieser härte so ehrlich und ernüchternd. Dabei wirkt Taylor Swift auch etwas anders als sonst. Nämlich irgendwie bodenständiger, gelassener und weiser und alter. Teast sie uns mit einer neuen Taylor, auf die wir uns freuen dürfen? Ich weiß es nicht, vielleicht, hoffentlich. Sie hat hier mal eben vor Jahresende nochmal abgeliefert. Knallhart.
Platz 3: Dang! feat. .Anderson Paak (Mac Miller, The Divine Feminine)
Ich könnte hier ganz frech einfach die besten Lines aus dem Track posten und die Sache wäre geklärt. Wieso auch nicht?
„But my heart like gold, but it break like glass”
„So when I get home, I’mma give you some
Make you feel like woo, when I hit that drum
Yeah the dick ain’t free, I don’t give no fucks”
„Okay, we be fighting, we be reuniting
Kiss me, touch me, tease me, me excited
God, the devil, who is who?
Tryna get through to you because…”
„Well, you can’t go away girl, I’mma need you
Play your games like they my ticket to an Ivy league school
Won’t get Hall of Fame dick from a minor league dude
I just eat pussy, other people need food”
“Only got a little time and I ain’t tryna spend it
Arguing about who ain’t giving who attention
Starting up the engine, need to reboot
I just eat pussy, other people need food”
„I just eat pussy, other people need food”
„One more time, it ain’t much
Fuck ‚em all, let’s be us, summer’s soft sweetness
Call late drunk, you hang up”
„Okay, it’s seems inviting, trust me, she’s a titan
This week she like him, next week they fightin‘
Need protection, all your dresses bulletproof
You’re safe with me, girl”
Platz 2: Erkläre mir die Liebe (Philip Poisel, Mein Amerika)
Damit habe ich echt nicht gerechnet. Aber Philip Poisel gelingt hier eines auf ganz atemberaubende Weise: Wärme und Kälte zu vereinen. Das klingt kryptisch, ergibt sich jedoch beim Hören des Songs ganz automatisch. Lyrisch gelingen ihm Bilder von großer Aussagekraft. Sie transportieren Emotionen, die in jedem von uns sitzen ganz nach außen und ballen sie zur Faust. Dabei setzt Poisel ganz bewusst Leerstellen. Mit nur drei verschiedenen Klängen gelingt ihm Großes. „Erkläre mir die Liebe“ demonstriert die Macht der Musik etwas tief im Innersten des Menschen zu entdecken und hervorzuholen.
Platz 1: White Privilege II feat. Jamila Woods (Macklemore & Ryan Lewis, This Unruly Mess I’ve Made)
Macklemore gibt dem Hip Hop das Politische zurück. Eine mächtige 8-minütige Selbstreflexion über ihn als weißen Rapper in der Gesellschaft, in einem Land, in dem Rassismus täglich präsent ist und wie sein Erfolg damit verbunden ist. Aus ihm spricht Wut, Ärgernis und auch Verzweiflung, wie ihm alles über dem Kopf wächst und er versucht dieses Problem zu erfassen. Ebenfalls beeindruckend ist der Mut, mit dem er womöglich einige seiner Fans vor den Kopf stößt, in dem er sie selbst vertont und entlarvt. Er attackiert die Mileys und Iggys dieser Welt und versucht sich selbst in dieser Linie einzuordnen. Dabei spricht er große Wahrheiten aus. Eigentlich hätte er noch radikaler sein dürfen, aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Was Macklemore mit diesem Track tut, das gibt es so in dieser Form kein zweites Mal. Es ist ein Track der alles verkörpert was Hip-Hop ausmacht und genau deswegen ist er so gut. Macklemore beweist mit der immensen Bescheidenheit die sein Feingefühl und seine Sensibilität ausmacht, das er der beste Rapper ist, den es momentan so gibt. Am Ende steht ein Gefühl, das vielen nicht gefällt. Es ist eine Frage, wie viel man von seinen Privilegien für andere zu opfern bereit ist. Eine Frage, die auch wir weißen Europäer uns stellen müssen. Silence is a luxury, hip hop is not.